Akzeptierende Drogenarbeit

„Die Liebe sucht den Menschen immer da auf, wo er sich befindet; nicht da, wo sie ihn hin haben will.“ (A. Köberle)

In den 1970er Jahre kam es in Westeuropa zu einer unübersehbaren Zunahme problematischen Gebrauches illegaler Rauschmittel, insbesondere bei Opiaten, Kokain und synthetischen Aufputschmitteln. Damit verbunden war eine Expansion des Drogenschwarzmarktes und die Verbreitung riskanter Konsumformen (Fixen). In Großstädten entwickelten sich offene Heroinszenen. Infolge der damit einhergehenden ordnungspolitischen Probleme (Beschaffungskriminalität, Belästigung von Anwohnern) reagierten Politik, Polizei und Justiz mit einer Verstärkung der Repression. Dieser Verfolgungsdruck führte letztlich wieder zu einer Verschärfung der Situation der Betroffenen. Heroingebraucher*innen gerieten in eine Leidensspirale, aus der nur zwei Auswege zugebilligt wurden: Abstinenz oder Tod. Diese Zuspitzung führte in eine drogenpolitische Sackgasse.

Als Anfang der achtziger Jahre die AIDS- Krise nicht nur unzählige Todesopfer forderte, sondern über viele Kanäle auch die Mitte der Gesellschaft bedrohte, deutete sich ein Umdenken im Bereich der Drogenhilfe an. Offensichtlich genügten die bisherigen, strikt an Abstinenz orientierten Angebote nicht, um die Betroffenen tatsächlich zu erreichen. So suchten Selbsthilfegruppen wie AIDS-Hilfe und Elternverbände, aber auch professionelle Drogenhelfer nach neuen Wegen. Ziel war dabei, die Reichweite der Hilfsangebote zu erweitern und auf diese Weise die Schäden für Drogengebraucher*innen und für die Gesellschaft besser vermindern zu können.

„Wenn mein Kind eine Therapie machen soll, bedarf es dazu vor allem einer grundsätzlichen Voraussetzung: es muss dafür überhaupt am Leben bleiben“
(Mutter einer Elterninitiative)

Deshalb war es eine Notwendigkeit geworden, Maßnahmen zur Überlebenshilfe und zur Gesunderhaltung in das Drogenhilfesystem zu integriert. Dazu gehören unter anderem:

• Spritzentausch und Ausgabe von Alkoholtupfern
• Sachliche Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen von Drogen/ „safe use“ Informationen (praktische Hinweise zur Reduktion von Gefahren beim Drogengebrauch)
• medizinische Basishilfe
• Bereitstellung von Kondomen und Aufklärung über Infektionsgefahren (AIDS, Hepatitis)
• Substitution
• Einrichtung von Drogengebrauchsräumen

Diese Hilfsangebote werden nicht länger an einen Ausstiegswillen der Drogengebrauchenden gekoppelt. Abstinenz wird nicht als Voraussetzung, nicht einmal als vorrangiges Ziel, sondern günstigenfalls als längerfristiges Ergebnis von Drogenhilfe verstanden.

Die akzeptierende Drogenarbeit hat ihre Wurzeln in der konkreten Sozialarbeit und Drogenhilfe. Aus diesen praktischen Erfahrungen heraus wurden dann zunehmend auch drogenpolitische Forderungen formuliert. Angesichts neu auftauchender Probleme und Diskussionen – wie der steigende Konsum von XTC (MDMA) und anderer Partydrogen – erfolgte eine Erweiterung des akzeptierenden Ansatzes und es wurden auch Impulse für die Jugendarbeit gegeben.

Akzeptierende Drogenarbeit entwickelte sich zu einer grundsätzlichen Positionierung im Umgang mit Drogen und Drogengebraucher*innen.

„Drogengebraucher haben, auch und gerade unter en Bedingungen des fortgesetzten Konsums, ein Recht auf menschenwürdige gesundheitliche und soziale Lebensbedingungen, sie müssen es nicht erst durch abstinentes und angepasstes Verhalten erwerben.“ (Heino Stöver)

Eine wichtige Erkenntnis der akzeptierenden Drogenarbeit ist:
Gesellschaftliche Probleme mit Drogen liegen weniger an den Drogen selbst als an unseren Umgang mit ihnen. Wollen wir die Probleme ändern, müssen wir unseren Blick auf Drogen wandeln.
Daraus lassen sich folgende Merkmale akzeptierender Drogenarbeit ableiten:

• Drogenhilfe muss sich auf konkrete Lebensbedingungen, Entwicklungen und Situationen beziehen.
• Zielsetzung: Besserung der Lebensqualität, Minderung von Risiken und Schäden („harm reduction“)
• Der konkrete Mensch ist Motiv der Arbeit, und keine (abstrakte) Idee.
• Drogengebraucher*innen werden als Gegenüber, als Partner*innen ernst genommen. Sie sind nicht Hilfs-Objekte, sondern handelnde Partner*innen. Ihnen wird Kompetenz und Selbstbestimmung zugetraut.
• Hilfe erfolgt mit den Drogengebraucher*innen, nicht gegen sie.
• Eine Stärkung der Selbsthilfe / Selbstorganisation und schrittweise Erweiterung der Eigenverantwortung wird unterstützt.
• Die Auseinandersetzung erfolgt in einer sprachlichen und sachlichen Differenzierung, sowohl in der Bewertung von Drogengebrauch, in der öffentlichen und politischen Diskussion als auch in der Ermöglichung eines breiten Hilfsangebots.
• Aktive Unterstützung schadens- und risikomindernden Drogengebrauches (tabufreies Gespräch über Drogenerfahrungen, Information über 1. Hilfe und „safe use“).
• Drogengebrauch wird als gesellschaftliche Realität anerkannt: Suche nach Wegen, mit Drogengebrauch und Drogengebraucher*innen zu leben! (Soziale und kulturelle Integration)
• Engagement gegen Vorurteile, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung gegenüber drogengebrauchenden Menschen.

Akzeptierende Drogenarbeit erfolgt nicht nur im Interesse der Betroffenen und ihren Angehörigen, sondern ebenso in Übereinstimmung mit den Interessen der Gesellschaft. Erfahrungen in den Niederlanden und der Schweiz belegen, dass bei akzeptierenden Arbeitsformen ein deutlicher Rückgang der Kriminalitätsrate die spürbare Folge auch für die allgemeine Bevölkerung ist.

Die DDR-Erfahrung zeigt: eine Kriminalisierung gesellschaftlicher Probleme erweist sich als unnütz und gefährlich. Die Prohibition wird auch zur Gefahr für die Demokratie. Akzeptierende Drogenarbeit ist ordnungspolitisch, finanzpolitisch und mit Blick auf demokratische Grundwerte eine handhabbare Alternative zur repressiven Drogenpolitik.

Akzeptierende Drogenarbeit ist kein hinnehmend-resignierender Umgang mit Drogengebrauch, sondern bedeutet aktives Handeln und bedarf hoher fachlicher Kompetenz.